Kursk Exkursion 2006

 

Bericht über eine Reise in das Kursker Gebiet

Werner von Scheven
3. Oktober 2006

Als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam habe ich mich mit dem Zweiten Weltkrieg eingehender befasst als ich das vielleicht sonst getan hätte. Mit der Schlacht um den Kursker Bogen vom Sommer 1943 habe ich mich besonders beschäftigt. Eine battle field tour von Prochorowka mit Generalmajor a.D. Dieter Brand war geplant, fand leider jedoch in diesem Jahr nicht statt. Ich hätte gern teilgenommen.

Vom 24. bis 27. Oktober 2006 war ich eingeladen, den Präsidenten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Reinhard Führer, zum 12. Internationalen Treffen der Veteranen aus Russland, Belarus, der Ukraine und Deutschland zu begleiten. Das Treffen fand in Russland statt, in Swoboda. Das ist eine kleine Stadt um ein berühmtes Kloster, ca. 30 km ostwärts von Kursk. Die Reise ging mit dem Flugzeug von Berlin nach Moskau (Sheremetjewo) und von dort ca. 7 Stunden mit dem Auto nach Süden in das Kursker Gebiet. Dieser Oblast genannte Regierungsbezirk ist einer von 50 in der Russischen Föderation mit 1,24 Mio Einwohnern. Das Gebiet hat die Größe des Landes Brandenburg 29,8 km, aber weniger als die Hälfte von dessen Einwohnern. Wir waren mit allen Veteranen sehr gut untergebracht im Hotel Pilgerzentrum „Korennaja Pustyn“, in Gehentfernung zum Kloster und zum Erinnerungspark mit dem Gefechtsstand des Oberbefehlshabers der Zentralfront vom 5. Juli 1943, Marschall Rokossowski.

Im Kursker Gebiet lernten wir nicht nur die Stadt Kursk (gegr. 1036) mit ihren 413 000 Einwohnern kennen, sondern auch mit dem Auto und dem Bus einen guten Teil des nördlichen „Kursker Bogens“, um den im Juli und August 1943 die größte Landschlacht tobte, die die Geschichte kennt.

Die Teilnehmer waren auf deutscher Seite außer dem Präsidenten und mir Angestellte des Volksbundes in den drei osteuropäischen Ländern sowie zwei Teilnehmer an der Schlacht um den Kursker Bogen. Dazu kam der Leiter Sächsische Gedenkstätten in Dresden Alexander Haritonow und zeitweise ein Angehöriger der Deutschen Botschaft in Moskau. Unser Hauptbegleiter und Dolmetscher war der Oberstleutnant der NVA a.D. Wolfgang Strojek, Vertreter des Volkbundes in den drei Staaten mit Sitz in Moskau. Seine Sprach- und Landeskenntnis ist beeindruckend. Sie wurde in Studienjahren in der Sowjetunion und in früheren Tätigkeiten in Moskau nach 1991 aufgebaut. Durch seine permanente Auskunftsbereitschaft geriet die ganze Reise wie ein Crash-Kurs Russland.

Für die Russische Föderation erlebten wir 10 Vorsitzende von Veteranenkomitees der Städte und Gebietskörperschaften, in denen der Volksbund aktiv ist. Hinzu kamen vier Kriegsteilnehmer. Für Weißrussland nahmen vier Vorsitzende von Veteranenkomitees bzw. eines Friedensfonds teil. Für die Ukraine kamen drei besonders hoch ausgezeichnete Kriegsteilnehmer, von denen ein Generalmajor a.D. das Veteranenkomitee der Ukraine vertrat.

Die ehemaligen Angehörigen der Sowjetarmee kamen teils in Uniform, teils in Zivil. Viele trugen die Orden und Medaillen, die ihnen jemals verliehen worden waren, auf breiter Brust verteilt. Zumeist waren es Stabsoffiziere und Generale, einige Feldwebeldienstgrade. Es waren darunter Helden der Sowjetunion und dreifache Träger des Ruhmesordens. Sie hatten unter den Veteranen Autorität und ihre Verehrung wurde an allen Orten sichtbar, wo Bürger und Soldaten der Russischen Föderation mit uns zusammen kamen. Es gab auch einige Frauen in den Delegationen. Von Vielen wurde ich auf ihre Zeit in deutschen Garnisonen nach der Besetzung Ost- und Mitteldeutschlands angesprochen. Einer schilderte mir seine Verwundung beim Sturm auf den Reichstag bei Kriegsende.

Ich war gebeten worden, meine Uniform als Generalleutnant (gleich dem russischen Generaloberst) der Bundeswehr noch einmal anzuziehen. Der Verteidigungsattaché in Moskau hatte die Genehmigung erteilt. Kein Zeichen der Ablehnung ist mir begegnet, nur freundliches Interesse, manchmal Erstaunen.

An zwei Tagen wurde je ein Seminar abgehalten, bei dem es um Sachstandsberichte und Absichten ging. Von Schwierigkeiten wurde gesprochen, zum Beispiel von Grabvandalismus. Viel Lob und Anerkennung war im Allgemeinen zu hören, auch über die gute Instandhaltung der sowjetischen Ehrenmale in Deutschland. Das ist eine weitere Aufgabe des Volksbundes in Zusammenarbeit mit den Kommunen.

Das Wetter konnte nicht schöner sein: Spätsommerlicher Sonnenschein bei Herbstlaubverfärbung. Es wurde allenthalben gut gegessen und getrunken, nach russischer Sitte natürlich mit reichlich Wodka, mit Reden und Toastsprüchen, bis tief in die Nächte.

Land und Leute

Die Abfertigung am Flughafen ging zügig wie in Westeuropa. Herr Strojek fährt uns mit seinem Skoda über den Autobahnring westlich um Moskaus Zentrum herum auf die Autobahn nach Süden. Sechs Fahrstreifen auf jeder Seite und dichter Verkehr überraschen den Landesunkundigen. Ebenso staunt man über die Bebauung beiderseits der Straße. Nur Neubauten, Großbauten, Einkaufs- und Gewerbezentren mit riesigen Parkflächen, Leuchtreklame wie in Amerika. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich ist auffällig. Immer wieder werden wir von Oberklasselimousinen, Sportwagen (Ferrari-Klasse) oder Vierradantriebern (Cayenne-Klasse) rechts und links überholt. Noch 150 km außerhalb des Autobahnringes fällt der Blick auf Datschen-Siedlungen jüngeren Datums. Es sind schmucke Einfamilienhäuser, Eigentumswohnungen im Grünen. Der täglich mehrfache Verkehrsstau ist gewaltig und muss die Moskowiter jeden Tag vergeudete Stunden kosten.

Auf der Fahrt an den Großstädten Tula und Orel vorbei wird die Autobahn allmählich unseren Landstraßen ähnlich. Hier präsentiert sich Russland mit seiner Erntezeit. Wir erreichen den Schwarzerdegürtel. Am Straßenrand überall Menschen mit ein paar Eimern oder Körben voller Blumen, Kartoffeln, Möhren, Äpfeln. Die Zuckerrübenernte ist in Gange, die Straße mit Fallrüben bedeckt. Die Dörfer hat man so schon gesehen, in der Literatur mit dem geistigen Auge, sonst in Film und Fernsehen. Hier ist wenig Veränderung zu erkennen, sieht man von einer oberirdischen Gasleitung von Haus zu Haus ab, die als gelbes Rohr den Anblick stört.

Die Verkehrspolizei ist allgegenwärtig und hält auch unser Fahrzeug wiederholt an, um Dokumente zu kontrollieren. In Wirklichkeit zocken sie die Fahrer höherwertiger Fahrzeugtypen ab, wie Strojek erklärt. Die Milizionäre sehen aus, als könnten sie weder rechnen noch schreiben, nur ständig mit dem schwarz-weißen Zeigeknüppel schwingen -unterhalb der Gürtelschnalle natürlich, sonst wäre es zu anstrengend. Man muss höllisch aufpassen, ob das Schwingen des Knüppels auf uns weist und Halt gebietet. Übersehen wird teuer bestraft. Ein Blitz mit der Laserkanone führt zum Abkassieren, Beweislast liegt beim Fahrer.

Der Liter Benzin mit 95 Oktan kostet um 20 Rubel, das sind etwa 60 Eurocent. Es gibt genügend Tank- und Rastplätze, zum Teil gut ausgestattet. Am Imbiss gibt es nichts auszusetzen. Die sanitären Verhältnisse unterwegs sind selten akzeptabel, meist unbeschreiblich.

Im Straßenbild fällt auf, wie adrett die Damenwelt sich auch im Alltag kleidet und bewegt. Die saloppe bis nachlässige Freizeitmode in deutschen Städten steht dazu in auffälligem Kontrast. Jugenddelegationen aus Deutschland korrigieren sich in der Begegnung mit russischen Gleichaltrigen schon mal durch Einkauf vor Ort, weil sie sich schämen oder weil ihnen das Oberbekleidungsangebot gefällt – so wird uns von den Kennern des Volksbundes erzählt.

Am Ende eines langen Anreisetages lernen wir den Organisator und guten Geist des Veteranentreffens kennen: Viktor Ivanovitsch Muchin. Er ist ein wahres Multitalent und spricht hervorragend Deutsch. Er diente vom Kadetten bis zum Oberst in der Sowjetarmee und war in den 70er Jahren Kommandeur eines Aufklärungsverbandes in Mühlhausen/Thüringen. Ich kann ihm mitteilen, dass ich als Generalstabsoffizier in der 2. Kasseler Jägerdivision und als Kommandeur eines Panzerbataillons der 5. Panzerdivision an der Gegend Mühlhausen-Sontra-Hessisch Lichtenau ein besonderes Interesse gehabt hatte. Darauf trinken wir erst mal einen.

Gleich am ersten Morgen sind wir gebeten, im Klosterbereich an der Zeremonie des Heraustragens der Ikone der Heiligen Mutter Gottes „Offenbarung“ teilzunehmen. Die Ikone ist eine der bedeutendsten in der russischen Kirchengeschichte. Ihr werden Wunder bei der Abwehr von Invasoren zugeschrieben, so die Siege, bzw. Rettung bei Poltawa (1709), Borodino (1812) und natürlich Kursk 1943. Viele tausend Gläubige, Kleriker, Mönche und Offizielle sind auf einem Abhang vor der Klosterkirche versammelt. In der entfernten Tallage liegt Morgennebel im Sonnenlicht. Viele Menschen defilieren an der aufgetischten Ikone vorbei, knieen nieder oder verbeugen sich und küssen die gläserne Oberfläche. Kosaken in traditionellen Uniformen stehen daneben. Als ich gefragt werde, ob auch ich der Ikone meine „Verneigung“ machen wolle, lasse ich mich nicht zweimal bitten. Beim Warten unter einer alten Kastanie kommt eine kleine alte Frau mit schwarzem, das Gesicht umschließenden Umhang auf mich zu und sieht mich lange aufmerksam an. „Guten Morgen“ sagte sie und lächelt. „Chart arbeiten“ höre ich dann und sehe Tränen, als sie sich umwendet. Sie ist keine Bettlerin, sondern eine Frau aus dem Ort. Babuschka hatte mich angesehen und mich tief bewegt. Oder war es Mütterchen Russland?

Die Ikone wird im Frühjahr von der Kathedrale in Kursk nach Swoboda gebracht. Wir sind Zeugen, wie der Pilgerzug eröffnet wird, der die Ikone wieder in die Kathedrale der 30 km entfernt gelegene Stadt Kursk zurückbringen soll. Die Prozession mit orthodoxem Festgepränge ist ein besonderes Erlebnis, obwohl wir nur einige hundert Meter mitgehen und dann zu andern Zielen aufbrechen. Dabei kommen wir später auch als Besucher zur Ikone zurück, die inzwischen ihr Winterquartier im Dom von Kursk eingenommen hat. Dieser Dom war in kommunistischer Zeit ein öffentliches Kino. Uns wurden zwei Dome in der Stadt gezeigt, deren Pracht sowohl außen wie innen miteinander zu wetteifern schienen (Snamenskij und Sergijew-Possadskij). Die vollkommen vergoldete 18 m hohe Ikonenwand des einen Doms wird unvergesslich bleiben. Es scheint trotz Kommunismus noch viel Frömmigkeit zu geben, auch die Armee zeigt sich bei und mit der Kirche. Die Orthodoxie ist gewiss auch ein Ausdruck von Tradition und russischer Identität.

Unser ranghöchster Gastgeber an allen Tagen war Nikolai Michailowitsch Owtscharow, Stellvertretender Gouverneur des Kursker Gebietes. Er ist nicht nur Präsident des Verkehrsclubs im Gebiet, sondern auch zuständig für die Veteranen und ihre Angelegenheiten. Den Mittfünfziger kennzeichnen Ruhe, Gelassenheit und eine gute Mischung aus Ernst und fröhlicher Geselligkeit. Zu später Stunde ließ er in einer Rede in kleiner Runde einen Blick in sein Herz zu. Er erzählte von seinen Eltern und von seinem Bruder. Die Eltern flüchteten Anfang Juli 1943 mit einem Pferdefuhrwerk, ihr Sohn wurde in die Schlacht bei Prochorowka geschickt. Dort erlitt er den Soldatentod. Dieser Sohn, sein älterer Bruder, hieß Nikolai. Nach ihm wurde er, der Nachkömmling, benannt.

Nikolai M. Owtscharow war zu sowjetischer Zeit Kommunist und Funktionär, gleichwohl war er getauft worden – und hat auch seine beiden Kinder taufen lassen. Konspirativ gewissermaßen. Er zeigte sich als ein Mann, der nicht viele Worte macht, bei dem aber auch ohne Pathos jedes Wort Gewicht hat.

Die russische Gastfreundschaft ist legendär und so haben wir sie erlebt. Vor dem Essen Händewaschen ist Ritual. Es wurde an einem Ort durch Mädchen in Trachten mit wassergefüllten Tonkrügen und Blumen im Haar zelebriert. Die russische Küche fand ich äußerst schmackhaft, sogar beim Salat. Aber es wird zu reichlich gegessen, mit viel Schmand und Majonaise. Und natürlich wird viel zu viel hochprozentiges Wässerchen getrunken. Schon beim Frühstück wird man gefragt, ob. Beim Mittagessen gibt es dann keine Ausreden mehr. Abends ist alles zu spät… Biertrinken breitet sich in Russland anscheinend aus, es ist gut zu genießen, aber lieber nicht zusammen mit Wodka.

Sowjetrussische Erinnerungskultur und Schicksalsaufklärung

Veteranen und die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg spielen im Russland von heute noch immer eine große Rolle. Im Kursker Gebiet gibt es zahlreiche Orte mit Erinnerungsparks, Denkmälern, Paradestraßen und ewigen Feuern, bei denen Obrigkeitsvertreter, Bürger und Vereine, Schulklassen und Delegationen Kränze oder Blumen ablegen und Gedenken feierlich begehen. Helden werden verehrt und des Sieges wird mit Inbrunst gedacht. Jeder Gefallene ist ein Held. An zahlreichen Stellen wurde ich gebeten, in der Delegation mit anderen „Veteranen“ Blumen abzulegen oder einer Kranzniederlegung beizuwohnen. Presse und Fernsehen nahmen dies aufmerksam zur Kenntnis. Tägliche Berichte zeugten davon. An den meisten Orten wurden wir dabei begleitet von den lokalen Spitzenvertretern, Bürgermeistern, Landräten und dem Stellvertretenden Gebietsgouverneur. Musik von Schostakovitsch, Rachmaninov u. a. Komponisten hallte aus Lautsprechern von Polizeifahrzeugen über die Szene. Alle Zeremonien wurden von Jugendlichen in Uniform mitgestaltet, zum Teil im Paradeschritt, die Mädchen mit großen Schleifen im Haar. Es ist ein Teil der nationalen Erziehung. Einige der Jugendlichen vertreten aber auch die Organisation, die in Russland sowjetische Kriegsgräber sucht und die sterblichen Überreste umbettet.

Die Sowjetunion zog das Memorial dem Einzelgrabfriedhof vor. Es gibt nur wenige Einzelgräber, so auch beim Denkmal für die Opfer des U-Boot-Unfalls „Kursk“.
Hieraus hat sich eine Akzeptanzschwelle für die Arbeit des Volksbundes in den Nachfolgestaaten der SU ergeben. Angehörige erleben es zum Teil mit bitteren Gefühlen, wie die Deutschen jedem einzelnen Schicksal nachgehen, während ihre eigenen Gefallenen und Vermissten nur im kollektiven Gedenken erfasst werden. In Kursk gibt es einen großen „Memorial-Komplex“ für das Gedenken an die Schlacht um den Kursker Bogen. Hier galt unser Blumengruß u. a. dem Marschall Georgij Schukow und den Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg mit dem ewigen Feuer.

Die in deutsche Kriegsgefangenschaft geratenen – und mit Mehrzahl verhungerten – Sowjetsoldaten wurden von ihrer Führung zunächst totgeschwiegen, Jahre später auf Vermisstenlisten gesetzt und bis in die jüngste Zeit als Feiglinge und Verräter geächtet. In deutschem Gewahrsam verstorbene Sowjetsoldaten wurden durch die Wehrmacht registriert. Ihre Personalunterlagen wurden den sowjetischen Behörden nach dem Kriege übergeben. Für die Angehörigen sind sie weiterhin vermisst. Sie haben nie eine Rente bekommen. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat seit einigen Jahren in Zusammenarbeit mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten die Aufgabe übernommen, das Schicksal von in deutschem Gewahrsam verstorbenen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aufzuklären und das Ergebnis den Angehörigen mitzuteilen. Der Volksbund und die Gebietsverwaltung von Kursk hatten in unserem Fall die Angehörigen durch gemeinsame Medienarbeit gesucht. Ich erlebte im Puschkin-Theater von Kursk eine einfühlsam gestaltete Feier mit. Die Kopien der Personalakte, z. T. mit Fotos aus den Kriegsjahren, wurden an Angehörige überreicht, mit Reden und Orchester. Niemand bleibt unberührt, wenn er zum Beispiel miterlebt, wie das alte Mütterchen mit gebeugtem Rücken und Holzstock in der Hand von Schülerinnen in Uniform auf die Bühne geleitet wird, wie es dem Präsidenten des Volksbundes aus Deutschland ein Blumensträußchen überreicht und zitternd versucht zu verstehen, was ihr aus den Dokumenten vom Tode ihres Bruders übersetzt wird. Der Vorgang wiederholt sich 50 mal – es sind Geschwister, Kinder und Kindeskinder der Toten. Viele Angehörige nehmen die Schriftstücke sichtlich bewegt entgegen.

Zu den Gedenkparks und Memorialen gehören oft sog. Museen. Auch das sind Orte der Heldenverehrung. Ewiger Ruhm den beteiligten Sowjetsoldaten und ihren Führern, so spricht es aus Karten, Bildern und Texten. Während die Angaben über Orte, Zeitpunkte und Befehlshaber der Schlacht bei Kursk authentisch zu sein scheinen, halten die Angaben über Verluste an Menschen und Material den aktuellen Kenntnissen der Fachhistoriker, auch der russischen, nicht Stand. Zählt man alles zusammen, hätte es mehr Wehrmachtspersonal gegeben als es überhaupt Deutsche gab.

Man kann das historische Geschehen heute so beschreiben, dass eine sowjetische Großoffensive zwischen Estland und Asow´schem Meer im Sommer 1943 durch eine deutsche Gegenoffensive (Operation Zitadelle) gegen den nach Westen ausgebuchteten Kursker Bogen vom 5. bis 16. Juli aufgehalten worden ist. Die mit zwei Zangen gebildete deutsche Angriffsoperation schlug unter anderem deshalb nicht bis zum Mittelpunkt des Frontbogens Kursk durch, weil Hitler am 11. Juli gepanzerte Großverbände unverzüglich Richtung Italien beorderte, wo die Alliierten auf Sizilien gelandet waren.

Die sowjetischen Verluste bei „Zitadelle“ betrugen das Sechsfache der deutschen (319 vs. 54-tausend Tote, Verwundete und Vermisste). Die sowjetische Sommeroffensive brach mit zeitlicher Verzögerung wie eine Lawine über die deutsche Ostfront herein. Stalins Wille und die Sowjetarmee vermochten es, die deutschen Truppen weit zurückzuwerfen. Die Kräfteüberlegenheit war immer noch überwältigend. Bis 23. August war die Schlacht um den Kursker Bogen durch Anschluss der Frontlinie beiderseits des Bogens ausgetragen. Aus Zitadelle wurde eine Schlacht um den gegenläufigen Doppelbogen von Kursk und Orel. Die sowjetischen Verluste an Panzern und Flugzeugen betrugen das Achtfache der deutschen, die Personalverluste noch mehr. Dennoch drückten die sowjetischen Armeen die Wehrmacht bis zum Jahresende an den Dnjepr zurück. Soweit die Fakten.

Man kann spekulieren: Rechtzeitig ausgelöst und ohne die schweren Verluste im Raum Kursk wäre es wahrscheinlich gelungen, das Territorium der Sowjetunion bereits im Jahre 1943 weitgehend zurück zu erobern. In der russischen Erinnerung an den Gedenkstätten wird bis heute ein anderes Geschichtsbild vermittelt. Vielleicht hätte auch der Widerstand im Deutschen Reich mehr Wirkung entfalten können. Solche Gedanken gehen dem Schlachtenbummler durch den Kopf, auch wenn sie müßig sind.

Unsere Veteranen wurden mit dem Bus nach Norden gefahren, wo wir am Denkmal für die Panzerhelden (Tankist) bei der Stadt Ponyri einen Kranz und Blumen niederlegten. Hier war schon am 11. Juli 1943 die nördliche Zange der 9. dt. Armee von den sowjetischen Verteidigern zum Stehen gebracht worden. Der Bahnhof von Ponyri (Strecke Orel – Kursk) wurde gegen den Angriff der 10. Panzergrenadierdivision behauptet und ist heute eine Heldengedenkstätte um Marschall Rokossowski und seine Soldaten.

Das „Kerngeschäft“ des Volksbundes

Die Hauptaufgabe des Volksbundes in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist die gleiche wie sie seit der Zeit nach dem I. Weltkrieg in den Nachbarländern Deutschlands wahrgenommen wurde. Es geht um die Auffindung und Registrierung gefallener deutscher Soldaten, die Erhaltung ihrer Friedhöfe, bzw. ihre Umbettung auf Sammelfriedhöfe. Die Teilnehmer am Veteranentreffen von Kursk wurden nach Beresino im Landkreis Kursk gefahren, wo der Volksbund ein Abkommen von 1992 zum Bau deutscher Soldatenfriedhöfe erfüllt. 42 000 Gräber sollen hier in den nächsten zwei Jahren einen zentralen Sammelfriedhof bilden. Bisher sind die sterblichen Überreste von 4000 deutschen Soldaten beigesetzt. Ein großes Holzkreuz steht auf dem weiten Feld. Noch keine Bäume. Eine niedrige Feldsteinmauer ist im Entstehen. Weit geht der Blick hinaus auf das Schlachtfeld von einst. Ein Land, das jetzt so friedlich auf den Herbst wartet. Wir legen einen Kranz nieder. Ein junger Russe spielt auf der Trompete das deutsche Lied vom Kameraden. –
Es sind noch drei weitere Sammelfriedhöfe in West- und Südrussland im Bau sowie einer in Planung.

Bei einem Mittagessen in Kursk hält der langjährige ehemalige Vorsitzende des Kursker Veteranenkomitees eine kurze Rede. Generalmajor a.D. Michail Owtschinikow lobt die Arbeit des Volksbundes und das gute Einvernehmen mit den russischen Veteranen. Dass er auf Verbrechen der Sowjetarmee an der deutschen Bevölkerung nach dem Vordringen über die Reichsgrenzen hinwies, fand ich bemerkenswert.

Auf der Rückfahrt nach Moskau halten wir ca. 100 km südlich von Orel. Neben der Straße Szenen eines kleinen russischen Dorfes. Ein Grundstück mit Obstbäumen, einem schiefen Holzhäuschen, Hühnerstall und Kartoffelacker wird noch von einer alten Bäuerin bewirtschaftet. Sie begrüßt uns mit buntem Kopftuch. Die ersten Gespräche unserer russisch sprechenden Landsleute lösen bei ihr Tränen der Erinnerung aus. Sie war ein Mädchen als auf diesem Grundstück ein deutsches Feldlazarett stand. Es wurde ein Friedhof nebenan angelegt und fast 1000 Soldaten sind dort bestattet. Sie selbst hatte noch die beim Rückzug des Lazarettes im Juli/August 1943 nicht mehr begrabene Körper unter die Erde gebracht. Sie hatte dem Suchtrupp des Volksbundes die Auskunft gegeben und sich bereit erklärt, die Exhumierung der Toten zu unterstützen. Wir denken daran, dass es nicht mehr lange solche Zeitzeugen geben wird.

Es sind junge russische Männer, die gegen Lohn die schwere Arbeit des Exhumierens leisten. Es dauert etwa eine Stunde um ein Grab zu leeren und wieder mit der Grasnarbe zu schließen. Zahlreiche Plastiksäcke stehen im Garten verteilt, wo sie gerade mit den sterblichen Überresten gefüllt wurden. Nach 63 Jahren sind die meisten Gebeine noch vollständig. Fundsachen dienen der Identifizierung, obwohl eine vorschriftsmäßige Registrierung wohl bei der Bestattung vorgenommen worden ist. Ich sehe Stahlhelme, Stiefel, Koppelschlösser, einen kleinen noch intakten Kompass, einen Ring, Besteck, Waffenölfläschchen, Erkennungsmarken und andere Gegenstände. Erschüttert nehme ich eine gerade von Erde befreite Erkennungsmarke in die Hand mit Durchschuss. Ich lese „/-Ersatzbataillon“. Der Vorarbeiter liest aus dem beiliegenden Sterbedokument vor: „Tod durch Brustschuss“. Ein Teil des letzten Feldpostbriefes, der nicht mehr abging, ist noch zu lesen.

Die Säcke werden beschriftet und später in ein Depot gebracht, wo sie bleiben werden, bis die Umbettung nach Besedino stattfinden kann. Die Bestattung erfolgt in kleinen sargförmigen Kartons. Den Angehörigen wird Gewissheit vermittelt. Zur Einweihung des Friedhofes werden sie eingeladen.

Der Volksbund finanziert sich zu 90 Prozent aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden in Deutschland. Mein Respekt und meine Dankbarkeit für die Arbeit des Volksbundes ist noch einmal gewachsen. In seiner Obhut befinden sich heute über 800 Kriegsgräberstätten in 43 Staaten mit etwas 1,9 Millionen Soldaten, auch aus dem I. Weltkrieg. Zurzeit sind 35 Begräbnisanlagen im Bau oder in der Instandsetzung. Der Volksbund veranstaltet Kriegsgräberfahrten und Jugend- sowie Schülerbegegnungen. Und Veteranentreffen.

Auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion, einschließlich des Königsberger Gebietes, gibt es 118 000 registrierte Grablagemeldungen der Deutschen Wehrmacht. 2,2 Mio deutsche Kriegstote werden auf dem Gebiet vermutet, für 1,9 Mio liegen namentliche Todes- oder Grablagemeldungen vor. Der Volksbund hat zudem ca. 100 Kriegsgefangenen- und Interniertenfriedhöfe wieder hergerichtet, hier wartet aber die Hauptarbeit noch darauf angepackt zu werden. Sie wird besonders schwierig sein.

Noch im September 2006 hat der Volksbund in Rossoschka bei Wolgograd einen Sammelfriedhof für die Gefallenen und Vermissten der Schlacht bei Stalingrad seiner Bestimmung übergeben. Er ist neben einem russischen Militärfriedhof gelegen. An einer Rundmauer sind die Namen von fast 25 000 in Stalingrad gefallenen deutschen Kriegsteilnehmern eingemeißelt. 107 Granitwürfel tragen die Namen von über 102 000 vermissten Wehrmachtsangehörigen der Schlacht bei Stalingrad.

Überarbeitet am 17.11.2006